„Sich die eigene Zukunft aneignen“

Von Christine Tragler · · 2020/Mai-Jun

Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr hat sich auf die Suche nach neuen Zukunftsmetaphern für Afrika gemacht. Ein Gespräch darüber, warum das Projekt der Neuerfindung dringend vonnöten ist.

Kein Aufholen und auch kein Überholen. Die Vision von Felwine Sarr für ein zukünftiges Afrika sieht anders aus: Losgelöst von der kolonialen Vergangenheit soll sich der Kontinent von westlichen (europäischen) Maßstäben abwenden und sich dabei neu erfinden. Der senegalesische Autor und Ökonom, der derzeit zu den meistgehörten Intellektuellen Afrikas zählt, will der „Hegemonie westlicher Denktraditionen“ ein Ende setzen und stellt damit kulturelle Bezugspunkte für den Blick auf den Kontinent selbst radikal infrage. Stattdessen appelliert er an die Afrikanerinnen und Afrikaner, sich auf ihr kulturelles Erbe und Prinzipien wie Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und Achtsamkeit zu besinnen.

Mit seinem Manifest „Afrotopia“ hat er ein viel beachtetes Werk über die Dekolonisation Afrikas geschrieben. Mit der Wortkreation „Afrotopia“ entwirft er ein begriffliches Amalgam aus Afrika, Utopie und Topos und schafft dabei ein Gefühl von selbstbewusstem Aufbruch und einen Raum, der es erlaubt, „sich die eigene Zukunft anzueignen“, wie es im Buch heißt. Wer Aussagen über Afrika treffen möchte, bekomme es schnell mit „Gemeinplätzen, Klischees und Pseudogewissheiten“ zu tun, schreibt er. Für ihn stehen in diesem Sinne weder konkrete Reformvorschläge noch politische Handlungsanweisungen für den gesamten Kontinent im Zentrum, sondern alternative Entwicklungshorizonte und der Versuch, neue Metaphern zu entwickeln.

Felwine Sarr, geboren 1972, ist Autor, Philosoph und Wirtschaftsprofessor an der Gaston-Berger-Universität in Saint-Louis, Senegal. Zudem hat der international anerkannte Theoretiker des Postkolonialismus im vergangenen Jahr gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen wissenschaftlichen Bericht über die Rückgabe afrikanischer Kunst verfasst.

Felwine Sarr: Afrotopia

Matthes & Seitz, Berlin 2019, 175 Seiten, € 20,60

Von Kamerun bis Mauretanien – dieses Jahr feiern 17 afrikanische Länder 60 Jahre Unabhängigkeit von ihren einstigen Kolonialmächten. Ein Grund zum Feiern?

Politische Unabhängigkeit ist eine Sache, der Prozess der Dekolonisation eine andere. Die Unabhängigkeitswerdung war ein politischer Moment, in dem die Afrikaner und Afrikanerinnen ihre politische Souveränität wiedererlangten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Beziehungen zu Europa grundlegend geändert haben. Im Gegenteil: Die ehemaligen Kolonialmächte haben die afrikanischen Länder zwar verlassen, die asymmetrischen Machtverhältnisse und die Hegemonie westlicher Denktraditionen sind jedoch geblieben und wirken weiter.

Der Kolonialismus, der sich seit Jahrhunderten eingepflanzt hat, ist mehr als ein halbes Jahrhundert später nicht abgeschafft. Der Prozess der Dekolonialisierung des Denkens ist noch nicht abgeschlossen, weil alte Netzwerke und Praktiken noch immer Einfluss haben.

Wie verändert der Prozess der Dekolonisierung den Blick auf Afrika?

Dekoloniales Denken weitet die Möglichkeiten in allen Bereichen aus, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Kultur – und auch in Bezug auf die Natur. Wir sind es gewohnt, Afrika über seine Defizite zu definieren. Demnach gilt der Kontinent als weniger entwickelt, als weniger modern. Wir vergleichen die afrikanischen Gesellschaften mit den westlichen, die etwas haben, was wir nicht haben. Fortwährend versuchen wir, aufzuholen oder zu überholen. Damit verlieren wir Afrika mit seinen Besonderheiten aus dem Blick.

Wenn wir unsere Perspektive verändern, können wir die Möglichkeiten für die Zukunft erkennen und daran arbeiten, sie in die Realität umzusetzen. Schon jetzt gibt es lokale Experimente und Initiativen, die so etwas erahnen lassen. Das nenne ich eine aktive Utopie.

Sie plädieren dafür, dass Afrikanerinnen und Afrikaner sich auf das eigene kulturelle, politische und spirituelle Erbe besinnen. Wie präsent ist diese Rückbesinnung am Kontinent selbst?

Es ist eine Utopie. Ich beschreibe nicht das vorherrschende Bild, sondern einen Ort, der noch nicht ist, der aber Realität werden kann. Eine Utopie ist mehr als reine Träumerei. Mein Grundgedanke in „Afrotopia“ ist es, dass die Zukunft offen ist. Dass sie uns offensteht. Zuallererst muss man sich durch das Imaginäre bewegen und in der Lage sein, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die sich positiv und nachhaltig auf die Umwelt und die sozialen Beziehungen auswirkt. Dann gilt es nach Strategien zu suchen, um die Ideen tatsächlich zu implementieren. Dabei geht es mir weniger darum, praktische Anweisungen zu geben, sondern den Boden dafür zu bereiten, dass darüber nachgedacht werden kann, wie wir gut zusammenleben können.

Stichwort ökologische Nachhaltigkeit. Sie sagen, es würde sich lohnen, Grundsätze afrikanischer Gesellschaften in ihrer Beziehung mit der Natur genauer zu erkunden. Inwiefern?

Das Gleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie muss neu überdacht werden. Obwohl die Afrikanerinnen und Afrikaner die Konsequenzen der Klimakrise stark spüren, tragen sie mit vier Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen am wenigsten zur Erderwärmung bei. Eigentlich mag ich keine Rankings, weil sie häufig Dinge auf unterschiedlichen Grundlagen vergleichen, dennoch ist es mir ein Anliegen zu sagen, dass Afrika hier einmal den ersten Platz einnimmt, und nicht – wie so oft – den letzten.

Hier kann der Westen nicht nur von Afrika, sondern von den Wissensressourcen der ganzen Welt lernen. Für die Herausforderungen, die die gesamte Menschheit betreffen, brauchen wir alle Ressourcen, die uns weltweit zur Verfügung stehen.

Es gibt eine Vielzahl verschiedener Archive und Traditionen, die bedeutend und fruchtbar sind. Unsere Ressourcen existieren in einer Pluralität und kommen von überallher.

Alun Be: Savoir Faire, Edification Series.© Alun Be

Dazu bräuchte es u.a. einen Dialog Europas auf Augenhöhe mit Afrika.

Ja. In den vergangenen fünf Jahrhunderten hat Europa die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung auf allen Kontinenten geprägt. Jetzt muss Europa lernen, zuzuhören und bereit zu sein, von den Erfahrungen anderer zu lernen. Es ist diese dominante Position, die Europa nicht aufgeben will.

Wir können das mit dem Patriarchat vergleichen. Auch wenn sich Männer mit Feminismus auseinandersetzen, haben sie noch immer das Privileg in dieser Gesellschaft, ein Mann zu sein. Es ist eine große Herausforderung, von seinen eigenen Privilegien Abstand zu nehmen.

Apropos Privilegien. Die US-amerikanische Autorin Toni Morrison sagte einmal in einem Interview sinngemäß: „Wenn du nur groß sein kannst, weil jemand anderer auf den Knien ist, dann hast du ein ernstes Problem.“ Trifft dieses Bild auch auf die Beziehung zwischen Europa und Afrika zu?

Dies ist eine sehr mächtige Metapher. Der Arzt und Psychiater Frantz Fanon (1925-1961, Anm.d.Red.), der eine zentrale Gestalt und ein Vordenker in der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung war, rückte die psychische Dimension des kolonisierten Menschen, seine Erfahrung und Entfremdung, in den Mittelpunkt. Aber nicht nur. Er sagte, dass nicht nur die Kolonialisierten in der Position der Unterlegenheit gefangen sind, sondern auch die Weißen sind gefangen in der Rolle der Überlegenheit, die sich komplementär neurotisch verhält.

Die Idee ist, dass wir die beiden Teile der Beziehung heilen müssen, in Afrika und in Europa. Dies bedeutet nicht, dass wir nur von der Vergangenheit bestimmt werden. Aber: Beide müssen sich bewusst sein, welche Spuren diese Geschichte in ihrer Subjektwerdung hinterlassen hat. Die asymmetrischen Machtverhältnisse müssen sich ändern.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Das globale Phänomen der Migration ist ein gutes Beispiel. In vielen Ländern Afrikas leben mehr als 40 Prozent Migrantinnen und Migranten. Das ist ein sehr großer Anteil der Bevölkerung. Wenn Sie nach Mali, Burkina Faso oder Gabun kommen, haben Sie fast 50 Prozent der Bevölkerung, die zugewandert sind. Im Senegal leben drei Millionen Menschen aus Guinea ohne Probleme. Laut Statistik machen Migrantinnen und Migranten in ganz Europa rund zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Warum fällt es Europa so schwer, sich um ihre Integration zu kümmern?

Unter anderem in diesem Fall kann Europa von Afrika lernen. Gastfreundschaft muss kosmopolitisch werden. Ich muss mein Haus öffnen und jemanden aufnehmen, der Schutz sucht. Die Menschheit hat nicht nur eine Pflicht zur Gastfreundschaft, sondern auch ein Recht auf Gastfreundschaft. Denn die Menschen verdienen Sicherheit, Bildung und Pflege, wo immer sie sind, unabhängig von ihrer Nationalität. Es geht darum ein Denken zu entwickeln, das der Menschenwürde aller gerecht wird.

Sie argumentieren auch, dass sich Afrika von der Allmacht der Ökonomie befreien soll. Was meinen Sie damit?

Wir müssen das Ökonomische aus dem Sozialen vertreiben. Nicht alle Bereiche der Gesellschaft dürfen kommerzialisiert werden. Was wir stattdessen brauchen, sind kollektive Ressourcen für die Nutzung und den Nutzen aller. Für viele Menschen im globalen Süden ist dies offensichtlich und auch zivilgesellschaftliche Bewegungen in Europa wissen, dass sich die Dinge ändern müssen, sie schreien förmlich nach Veränderung.

Was Mut macht: Das derzeit vorherrschende Gefüge ist sozial konstruiert, das heißt, es kann überwunden und neu erfunden werden. Es gibt eine Vielzahl an Optionen. Wir wissen, dass die globale Wirtschaftsordnung unfähig ist, die fundamentalen Bedürfnisse des Großteils der Menschheit zu befriedigen. Die Bereiche, die Gewinn erzeugen, werden zum Vorteil einiger weniger privatisiert. Die Kosten hingegen werden der Mehrheit der Bevölkerung aufgeladen. Ebenso bekannt ist, dass wir auf die nächste ökologische Krise zusteuern – und machen weiter wie bisher.

Dieses System wird eines Tages zusammenbrechen. Deshalb denken jetzt immer mehr ernstzunehmende Ökonomen über postkapitalistische Volkswirtschaften nach. Utopische Vorstellungen sind der erste Schritt in Richtung alternativer Wirtschaftsweisen.

Als Beispiel für eine afrikanische Zukunftsstadt beschreiben Sie den vom ghanaischen Architekten Kobina Banning konzipierten „Sankofa Garden City Park“. Dieser Ort verbindet ein Amphitheater mit botanischen Gärten, Gebets- und Meditationsräumen, Marktständen und Gesundheitszentren. Worum geht es dabei?

Der Begriff Sankofa bedeutet, sich von der Vergangenheit nähren, um besser voranzukommen. Wir müssen mehr über unsere eigene Geschichte wissen, die über Jahrhunderte der Sklaverei hinausgeht. Für die Zukunft braucht es also Gedenkorte und Museen, die der Geschichte Gestalt verleihen. Unserer erlebten Vergangenheit ebenso wie der Zukunft, von der wir träumen.

Stichwort kulturelle Weitergabe: Jede Gesellschaft überträgt eine kulturelle Matrix, Erfahrungen und Wissen, die in einer Gesellschaft am Werk sind, eingebettet in Codes. Wenn wir davon ausgehen, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, dann heißt das, dass Afrikaner und Afrikanerinnen die längste Erfahrung mit der Bedeutung des Lebens haben. Wie kann man also glauben, dass man nichts von Afrika lernen kann?

Interview: Christine Tragler

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